„Schule in Deutschland ist auch heute noch viel zu häufig ein homo- und transfeindlicher Ort.“

Ein Gespräch mit Frank G. Pohl von „Schule der Vielfalt“ über Diversität und Vielfalt in Berufsschulen

1. Was bedeutet Diversität und Vielfalt aus der Perspektive von „Schule der Vielfalt“?

Das Antidiskriminierungsprogramm „Schule der Vielfalt“ hat einen intersektionalen Diversity-Ansatz, auch wenn sein Schwerpunkt auf den Themen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt liegt. Wir sind der festen Überzeugung, dass Schule ihrem gesellschaftlichen Auftrag für Bildung erst dann gerecht wird, wenn niemand benachteiligt, beleidigt und ausgegrenzt wird. Intersektional bedeutet, dass verschiedene Kategorien von Diskriminierungen betrachtet werden, wie Sexismus, Rassismus, Klassismus, Antisemitismus, Ableismus usw.

Ein intersektionaler Ansatz benötigt einen vielseitigen Blick auf Machtverhältnisse. Der Einsatz für mehr gegenseitigen Respekt und die Akzeptanz von Unterschieden kann so nur von allen Beteiligten des Schullebens gemeinsam umgesetzt werden. Dabei ist festzustellen: Schule in Deutschland ist auch heute noch viel zu häufig ein homo- und transfeindlicher Ort. Das trifft auch für den Bereich der Berufsschulen zu. Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, intergeschlechtliche und queere Menschen (LSBTIQ*) haben auch an den Schulen Angst davor, beleidigt und ausgegrenzt zu werden. Sie sind häufig „unsichtbar“.

Zugleich gibt es zahlreiche Schulen, auch im Bereich der beruflichen Bildung, an denen die Arbeit für mehr Akzeptanz auch gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu einem Teil der Schulprogrammarbeit sowie einem selbstverständlichen Querschnittsthema der Unterrichts- und Projektwochen-Gestaltung geworden ist. Einige von ihnen machen die Mitarbeit als offizielle Projektschule im Antidiskriminierungsnetzwerk „Schule der Vielfalt“ und ihr Engagement öffentlich sichtbar, insbesondere in dem sie das Schild „Come in - Wir sind OFFEN“ anbringen. Oder sie hissen die Regenbogenfahne, gestalten eine Schultreppe in diesen Farben, besuchen gemeinsam Workshops oder nehmen an den Vernetzungstreffen von „Schule der Vielfalt“ teil. Das Antidiskriminierungsprogramm „Schule der Vielfalt“ gründet sich dabei auf den Prinzipien von Inklusion, Menschenrechten und der Gleichstellung von Diversität. Das Ziel ist, dass das Thema „sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ im Bildungsbereich anerkannt und in Schulstrukturen verankert wird, insbesondere durch Aus- und Fortbildung, aber auch curricular.

 

2. Welche Chancen und Herausforderungen begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit?

Trotz vieler gesellschaftlicher positiven Entwicklungen, wie zum Beispiel die „Ehe für alle“, deckt sich das Bild aus unseren Beratungen mit Studien der letzten Jahre. Spätestens seit dem Ende der Beschränkungen während der Corona-Pandemie nimmt die Homo- und Transfeindlichkeit an Schulen zu. Ein Drittel von befragten 15- bis 17-jährigen LSBTIQ* geht nach einer EU-Studie fast nie offen mit ihrer Identität um. Und die EU-Grundrechteagentur FRA hat in Deutschland 2020 mehr als 16.000 queere Menschen nach ihren Erfahrungen befragt. 48 Prozent sagen demnach, sie seien in ihrer Schulzeit gemobbt worden. 46 Prozent sagen, sie hätten während ihrer Schulzeit nie erlebt, dass sie jemand unterstützt oder verteidigt hätte. Internationale Studien zeigen zudem, dass queere Jugendliche ein höheres Suizid-Risiko haben als nicht-queere junge Menschen.[1] Weitere Folgen können erhöhter Stress, sogenannter Minderheitenstress sein und die Übernahme negativer Selbstbilder, bei Lesben und Schwulen eine internalisierte Homonegativität.

Im Buch „Diversität im Klassenzimmer“[2], das ich mit meinen Kolleg*innen Birgit Palzkill und Heidi Scheffel verfasst habe, beschreiben wir am Beispiel von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, wie es Lehrkräften gelingt, Diskriminierungen und sexualisierte Gewalt zu unterbinden und allen in einer „Schule der Vielfalt“ eine selbstbestimmte und umfassende Entwicklung zu ermöglichen. Denn die Vorstellungen von geschlechtlicher oder sexueller Identität reichen längst über die Kategorien Frau und Mann oder hetero- und homosexuell hinaus. Im schulischen Alltag lässt sich täglich beobachten, mit welchen Schwierigkeiten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Auseinandersetzung mit der Forderung nach einer eindeutigen idealen Geschlechtsidentität konfrontiert sind. Für alle ist daher die Auseinandersetzung mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ein bedeutendes Thema. Dabei muss Unterricht sicherstellen, dass die persönliche Integrität aller Schüler*innen unbedingt geachtet bleibt.

Bei den am Netzwerk „Schule der Vielfalt“ teilnehmenden Projektschulen zeigt sich das große Engagement von Schüler*innen für mehr Akzeptanz. Bei einer unserer Projektschulen zum Beispiel, dem Richard-Riemerschmid-Berufskolleg in Köln war es für die SV völlig klar, dass sie am Programm teilnehmen möchten. Sie sagten: „Wer, wenn nicht wir?“ Und sie dachten dabei selbstbewusst und vorausschauend an einen zukünftigen Arbeitsplatz, an dem „Diversity“ nicht nur sichtbar ist, sondern auch wertgeschätzt und gefördert wird. Nachdem sie alle Beschlüsse in den schulischen Konferenzen erreicht hatten, begann die Umsetzung. Dabei war interessant, dass die Lehrkräfte daraufhin berichteten, dass durch die Teilnahme und Thematisierung im Unterricht unter diesem speziellen Aspekt von Diversität, sich das Schulklima insgesamt verbessert hatte. Das ist doch toll!

Das zeigt auch ein anderes Beispiel vom letzten Tag gegen Homo- und Transfeindlichkeit, der jährlich am 17. Mai ist. Am sogenannten IDAHOBIT[3] nahm eine Berufsschule an unserer Aktion „Rote Karte“ teil. In einem Bericht der Schule bei unserer jährlichen Befragung hieß es daraufhin: „Zwei junge Männer aus einer meiner internationalen Förderklassen liefen nach langem Betrachten der Aktion Rote Karte freudestrahlend Hand in Hand durch unser Forum.“

 

3. Sie sprachen von zunehmender Homo- und Transfeindlichkeit. Woran machen Sie das in Ihrer Arbeit fest?

Die Teams, die Bildungsworkshops mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen durchführen, berichten über zunehmend schwierige Bedingungen bei der Durchführung. Die Ehrenamtlichen Multiplikator*innen in den Teams erleben Hassnachrichten via Social Media nach Workshops. Die Workshops selbst wurden auch teilweise boykottiert und Störungen organisiert, die vermehrt zu Abbrüchen der Workshops führten.

Neben bisher in dieser Form nicht bekannten Problemen in den Workshops berichten Schulen nach dem Ende des Lockdowns bis heute, dass an Schulen, die z. B. anlässlich des IDAHOBIT* Regenbogenflaggen aufhängten, dass diese beschmiert, zerrissen und in Brand gesetzt wurden. Poster mit Informationen zu queeren Lebensrealitäten wurden regelmäßig abgerissen. Nach den Vorfällen der letzten Jahre gibt es seitdem auch präventive Maßnahmen der Schulen, um Abreißen etc. zu verhindern: So werden die Flaggen z. B. abends abgehängt. Des Weiteren wurde von anderen Schulen berichtet, dass Schüler*innen, die sich als queer geoutet haben oder sich im Rahmen des Pride Months für mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz engagieren, von Mitschüler*innen nicht nur verbal angegangen wurden.

Beispielhaft für Widerstände sei hier auch eine Feier zum Projektauftakt an einem Berufskolleg aus dem Oberbergischen Land geschildert. Hierbei wurden vor den Anwesenden offen die heftigen Reaktionen reflektiert, die es z. B. nach dem Auftritt eines Comedy-Programms gab. Schulleitung und Schule fühlten sich in ihrer Überzeugung bestärkt, am Programm „Schule der Vielfalt“ mitzuwirken („Jetzt erst recht.“).

 

4. Welche Ansätze und Strategien verfolgt das Programm „Schule der Vielfalt“? Wie unterstützen Sie Lehrkräfte damit?

„Schule der Vielfalt“ist ein bundesweites Antidiskriminierungsprogramm und Schulnetzwerk, das sich für mehr Akzeptanz gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt einsetzt. Das Programm fördert unter anderem durch Projektschulen, Beratungs- und Vernetzungsstrukturen sowie Unterstützungsmaterialien. In Nordrhein-Westfalen hat die Landeskoordination mit der NRW-Fachberatungsstelle „Schule der Vielfalt“noch eine zusätzliche Funktion. An die Fachberatungsstelle können sich Lehrkräfte, allgemein pädagogisches Personal, auch Seminarausbildende und Schulleitungen wenden. Der Schwerpunkt liegt insbesondere im präventiven Bereich, also zum Schutz von LSBTIQ*. Der Unterricht soll so gestaltet sein, dass er die Gemeinsamkeiten und die Zugehörigkeit aller betont und ausgrenzende Zuschreibungen vermieden werden. Das beinhaltet z.B., nicht abstrakt über LSBTIQ* als die anderen zu sprechen, sondern immer davon auszugehen, dass sich LSBTIQ*-Schüler*innen in der Klasse befinden, auch wenn sie nicht geoutet sind.

Durch die Beratung, Workshops, Vernetzungstreffen und Qualifizierung von Multiplikator_innen werden Lehrkräfte darin unterstützt, Unterrichtseinheiten zu „Homophobie“ und dem Thema „Homosexualität“ sowie zu „Transphobie,Transfeindlichkeit,Trans*“ zu gestalten. Darüber hinaus werden Fachveranstaltungen für Projektschulen, interessierte Schulen und Multiplikator*innen durchgeführt.

 

5. Was würden Sie Lehrkräften und Multiplikator*innen an berufsbildenden Schulen mit auf den Weg geben?

Wir wissen, welche Herausforderungen und Chancen gleichzeitig im Schulalltag mit Vielfalt verbunden sind. Die NRW-Fachberatungsstelle für „Schule der Vielfalt“ unterstützt Sie bei Fragen im Kontext von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt gern! Damit es ihnen leichter fällt, aktiv zu werden, Haltung zu zeigen und die Themen im Unterricht aufzugreifen.

 

 

Angaben zur Person: Frank G. Pohl ist Leiter der NRW-Fachberatungsstelle für „Schule der Vielfalt“. Als Autor hat er Unterrichtsmaterialien für mehr queere Akzeptanz verfasst und ist im Bundesausschuss Queer der GEW. Er gründete zuvor die bis heute existierende Gruppe „Homosexuelle Lehrkräfte in der GEW Köln/NRW“ (heute: AG Queere Lehrkräfte), war Mitglied des Hauptpersonalrats beim Schulministerium Nordrhein-Westfalen, GEW-Landesvorstandsmitglied und leitete ehrenamtlich die Anti-Gewalt-Beratungsarbeit des Kölner LSVD.

Website des Autors: https://frankpohl.de

 


[1] Vgl. FRA-European Union Agency For Fundamental Rights (2020): A long way to go for LGBTI.

[2]https://www.cornelsen.de/produkte/diversitaet-im-klassenzimmer-geschlechtliche-und-sexuelle-vielfalt-in-schule-und-unterricht-kopiervorlagen-9783589165841https>https://www.lsvd.de/de/ct/9243-idahobit2023https