AKTIV: Das Jahr 2024 begann mit den größten Protesten gegen Rechtsextremismus und für Demokratie, die Deutschland je erlebt hat, und endete mit der Normalisierung extrem rechter Positionen im politischen Diskurs. Was ist in dieser Zeit mit der Gesellschaft passiert?
Andreas Hövermann: 2024 war ein sehr erfolgreiches Jahr für die AfD – und das trotz eines äußerst misslungenen Europawahlkampfes, der von Korruptionsvorwürfen und letztlicher Distanzierung der Partei vom Spitzenkandidaten geprägt war. In der Tat ist es der AfD gelungen, ihre Themen dauerhaft im Fokus der öffentlichen Debatte zu platzieren und ihre Sicht darauf weiter zu normalisieren. Die AfD ist sehr erfolgreich darin, Unzufriedenheit und Wut zu instrumentalisieren. Die hohe Inflation der letzten Jahre, der zunehmend sichtbare Investitionsstau der öffentlichen Infrastruktur und die ausgeprägte Zukunftsverunsicherung waren hier idealer Nährboden für von ihr angezettelte und verbreitete Neid-Debatten und Untergangsszenarien für den Standort Deutschland. Die Terroranschläge durch Geflüchtete sowie die politischen Folgen, bei denen ganze Gruppen zu Sündenböcken gemacht wurden, taten ihr übriges. Insgesamt muss man attestieren, dass politische Kräfte erstaunlich wenig auf die Positionen der Proteste gegen Rechtsextremismus eingegangen sind, sondern vielmehr rechte Positionen gestärkt haben.
Nach Ende des zweiten Weltkriegs schrieb der evangelische Pfarrer Martin Niemöller seine bekannten mahnenden Worte über die Nazis: „(…) Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler. (…) Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Sehen die AfD-Wähler*innen nicht, dass auch sie in ihren Rechten eingeschränkt werden, wenn die Partei ihre Politik vollzieht?
In der Tat widerspricht das, was die AfD politisch und ökonomisch mit ihrer extrem neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik fordert, den Interessen vieler ihrer Wähler*innen. Einschnitte bei Sozialleistungen, Steuersenkungen – von denen v.a. Einkommensreichere profitieren – oder aber auch weniger Mieterschutz sind hier nur einige Beispiele. Dies scheint den AfD-Wähler*innen aber weniger auszumachen als das, was sich viele von der AfD versprechen und was sie für viele verkörpert: einen radikalen Politikwechsel. Hier ist es wichtig zu berücksichtigen, wie der Erfolg der AfD funktioniert. Sie setzt erfolgreich darauf, lange aufgebaute und stark ausgeprägte Ungerechtigkeits- und Ohnmachtsgefühle anzusprechen und weiter zu befeuern. Wenn man betrachtet, wie verbreitet selbst Gewaltbilligung gegen Politiker*innen unter AfD-Wähler*innen ist, kann man hier bei einigen auch von einem abrechnenden Wunsch nach Genugtuung sprechen. Diese starken Emotionen sind in der Lage, einzelne inhaltliche Punkte zu überlagern. Wobei man hier aber klar attestieren muss, dass bezüglich des wichtigsten AfD-Themas – die AfD-Pläne zur Zuwanderungsbegrenzung – die allermeisten ihrer Wähler*innen ausdrücklich zustimmen. Die AfD wird nicht trotz, sondern wegen ihrer migrationsfeindlichen Positionen gewählt.
Trotz Krisen konnte die AfD 2024 nicht mehr an ihren Erfolg 2023 anknüpfen. Sie stagniert im bundesweiten Durchschnitt bei ca. 18 Prozent, im Osten ist sie ebenfalls schwächer als 2023 – sicher auch dank der großen Protestwelle in der ersten Jahreshälfte. Welche Schlüsse können wir als Zivilgesellschaft daraus für das Jahr 2025 mit den Bundestagswahlen im Herbst ziehen?
Zum Teil der Wahrheit gehört auch, dass im Jahr 2024 mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht eine alternative Partei auf den Plan getreten ist, die für nicht wenige AfD-Wähler*innen attraktiv erscheint und die AfD einige Stimmen gekostet hat. Gleichzeitig zeigen Analysen, dass die AfD ihr Wähler*innenpotenzial mittlerweile sehr gut ausschöpft. Jedoch muss klar sein, dass dieses Potenzial nicht in Stein gemeißelt ist, sondern weiter wachsen kann – vor allem dann, wenn demokratische Parteien versuchen, der AfD nachzueifern im Sound und in den Positionen. Dies spaltet nur weiter und normalisiert nicht nur die AfD und ihre Positionen, sondern bestätigt ihre scheinbare Kompetenz bei dem Thema – da die AfD mit ihren Positionen dies ja schon lange fordert. Für das Jahr bis zur Bundestagswahl sollte daher keineswegs der AfD und ihrem Thema Zuwanderungsbegrenzung der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung überlassen werden. Statt des derzeitigen Überbietungswettbewerbs der härteren Gangart gegen Zuwanderung und Zugewanderte sollte eher die Frage im Mittelpunkt stehen, wie Integration insgesamt besser gelingen kann. Außerdem sollte inklusiv-solidarisch auf gemeinsame Interessen gesetzt werden. Inhaltlich liegt hier eine stärkere Thematisierung ungleicher Teilhabemöglichkeiten und Verteilungsungerechtigkeiten auf der Hand.