„Das sind nur zehn Prozent von dem, was wir alles erzählen könnten", sagt Mohammed und versucht zu lächeln. Doch es ist kein befreites Lächeln. Man sieht ihm an, dass er in jungen Jahren vieles erlebt hat, das sich nicht so einfach abschütteln lässt. Erlebnisse auf seiner Flucht von Afghanistan über den Iran bis nach Deutschland. Es sind Eindrücke, die sich nicht mal eben so in einem einstündigen Gespräch zusammenfassen lassen. Dennoch sitzen Mohammed und sein Freund Amir jetzt im Besprechungsraum der Jugend- und Auszubildendenvertretung von Boehringer Ingelheim, dem großen Pharmaunternehmen, und erzählen ihre Lebensgeschichte. Für den 22-jährigen Amir und den 21-jährigen Mohammed begann die Geschichte in Afghanistan, jetzt spielt sie in Rheinland-Pfalz. Die beiden jungen Männer starten ihre Ausbildung als Maschinen- und Anlagenführer beim internationalen Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, das an seinem Heimatstandort in Ingelheim mehr als 8.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. In die Ausbildung waren sie zunächst über die von den Sozialpartnern initiierte Einstiegsqualifizierung für benachteiligte Jugendliche, „Start in den Beruf" gelangt. Im vergangenen Jahr, unter dem Eindruck der steigenden Flüchtlingsmigration, hatten die Unternehmen und die IG BCE diese Maßnahme gezielt für Geflüchtete geöffnet.
Chancengleichheit als Leitmotiv
Auch bei Boehringer Ingelheim war es das gemeinsame, sozialpartnerschaftliche Anliegen, freie Ausbildungsplätze mit Geflüchteten zu besetzen. Für die JAV-Vorsitzende und Fördermitglied der Gelben Hand, Jaqueline Kluge, ist die Heranführung der Geflüchteten an eine Ausbildung ein selbstverständlicher Beitrag zu einer gelebten Integration: „Es gehört zu unserem gewerkschaftlichen Grundverständnis, sich für die Menschen einzusetzen. Chancengleichheit gilt für alle – unabhängig von der Ethnie oder der Religion." Natürlich sei die Situation anfangs für alle neu gewesen, betont Franziska Wirth, ebenfalls JAV-Mitglied. Sie hat die beiden Jugendlichen als Ansprechpartnerin betreut, stets nachgefragt, wie es läuft, und unterstützt, wo es nötig war. „Wir haben ihnen zum Beispiel bei den komplizierten, bürokratischen Anträgen für Schulbücher geholfen. Das war auch für uns Neuland, so dass wir beim Betriebsrat nachgefragt haben." Doch wenn die betriebsinternen Kanäle stimmen, finden sich Lösungen. Mohammed und Amir haben sich in jedem Fall gut aufgenommen gefühlt. Die Ausbildung gemeinsam mit den anderen Jugendlichen mache Spaß, so Amir, und er bekräftigt: „Hier sind alle nett und hilfsbereit, auch die anderen Azubis unterstützen uns." Scheint alles gut für den Moment. Doch bis hierhin war es ein langer und entbehrungsreicher Weg.
Mit der Familie auf der Flucht
Als Amir sechs Jahre alt war, flohen seine Eltern von Afghanistan in den benachbarten Iran. Mohammed wurde als Sohn afghanischer Geflüchteter sogar schon im Iran geboren. Sunnitische Geflüchtete sind im schiitischen Staat Iran quasi entrechtet. Zugang zu Schulbildung erhielten die beiden nur über gefälschte Pässe. Vor fünf Jahren entschied Amirs Familie, sich nach Europa aufzumachen. Es folgte die beschwerliche Reise in die Türkei, dann die gefährliche Bootsfahrt nach Italien: „Wir waren eine Woche in einem überfüllten Boot unterwegs. Man ist seinem Schicksal völlig ausgeliefert." Auch Mohammed floh 2011 mit seinem Bruder aus dem Iran über die Türkei nach Griechenland bis Italien: „In Italien wurden wir registriert und sofort zurückgeschickt nach Griechenland." Dort schlugen sich Mohammed und sein Bruder fünf Monate ohne Geld durch, bis sie den Fußweg über Serbien, Mazedonien und Ungarn antraten. In Deutschland angelangt, kamen beide zufällig in dieselbe Erstaufnahmeunterkunft nach Mainz, in der sie sich kennenlernten und schnell anfreundeten. Sie spielten zusammen Fußball in einem afghanischen Team. Zunächst einmal waren sie einfach froh, in Sicherheit zu sein. „Das Wichtigste ist, als Mensch wahrgenommen zu werden und sich nicht rechtfertigen zu müssen für seine Religion, wie es im Iran der Fall war. Ich will einfach mit meiner Familie in Ruhe leben", erklärt Amir. Dennoch war die Situation in Deutschland für beide nicht einfach. Ganze zweieinhalb Jahre warteten sie auf einen offiziellen Platz im Sprach- und Integrationskurs. Und das zu einer Zeit, als die Asylantragszahlen im Jahr 2011 mit knapp über 50.000 Anträgen noch vergleichsweise gering waren. Das Warten zehrte an ihnen: „Ich hatte es mir anders vorgestellt. Ich musste warten, wie im Knast – keine Arbeit, kein Studium", erklärt Amir. Dabei wollte er arbeiten, er kaufte sich Bücher um Deutsch zu lernen. Doch vor den gesetzlichen Änderungen im Asylrecht aus dem Jahr 2015 betrug das Arbeitsverbot für Asylbewerber noch neun Monate – mittlerweile sind es drei. Das ist ein notwendiger, politischer Richtungswechsel hin zu einer frühzeitigen Arbeitsmarktintegration, der jedoch zu spät kam für Amir und Mohammed. Nach vielen Bewerbungen ohne Erfolg, nach Leiharbeitstätigkeiten in Getränkelagern, nach vier Jahren in Deutschland wurden die beiden im letzten Jahr über das Jobcenter zu Boehringer Ingelheim vermittelt.
Mehr Vielfalt in den Betrieben
Dass das Unternehmen die jungen Afghanen in die Ausbildung übernahm, lag für den Ausbildungsleiter Stefan Hüppe an zwei wesentlichen Faktoren: „Sie brachten die sprachliche Eignung mit und die Motivation, eine duale Ausbildung zu beginnen." Die Politik, die Gewerkschaften und die Unternehmen suchen momentan nach Strategien, wie man die Geflüchteten effektiv in Ausbildung und Arbeit bringen kann. Grundsätzlich scheint es, dass sich – neben der sprachlichen Qualifizierung der Geflüchteten – auch die Arbeitswelt im Hinblick auf die neue Zielgruppe verändern muss, um der Herausforderung angemessen zu begegnen. Ähnlich sieht das auch Ausbildungsleiter Hüppe: „Zunächst einmal ist eine auf ‚Diversity‘, also auf Vielfalt, angelegte Unternehmenskultur hilfreich." Dann müsse man sich – auch in der Ausbildung – auf die Zielgruppe einstellen: „Man muss sich mehr Zeit nehmen, um bestimmte Dinge zu erklären, ergänzend zu verbalen Methoden auch mit non-verbalen, visuellen Medien arbeiten und ihnen gleichzeitig die berufliche Fachsprache vermitteln. Diese begleitenden Maßnahmen sind wichtig, dann gelingt auch Integration." Bei Amir und Mohammed war dieser Weg letztlich erfolgreich. Sie sind aber schon seit einigen Jahren hier. Damit die Neu-Zugewanderten es etwas einfacher haben, haben sich die beiden Afghanen im letzten Jahr in der Flüchtlingshilfe als Dolmetscher für ihre Landsleute eingesetzt.
Solidarisches Engagement der Gewerkschaften
Auch die JAV-Vorsitzende Jaqueline Kluge will das Thema, gemeinsam mit der IG BCE, weiter vorantreiben: „Die Belegschaft hat bisher großes Engagement gezeigt. Dennoch gibt es natürlich Menschen, die weniger begeistert oder offen sind. Wir als JAV werden weiterhin gute, präventive Aufklärungsarbeit leisten und uns engagieren, um rassistischen Tendenzen schon früh entgegenzuwirken." Für Mohammed und Amir ist es wichtig zu wissen, dass sich jemand für sie einsetzt – sie sind daher auch sofort in die IG BCE eingetreten. Schließlich sei Deutschland, so Amir, ihre „neue Heimat".