„Asyl bedeutet Schutz und Menschenwürde“

Interview mit Fördermitglied Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr des Landes Niedersachsen, zur Integration von Flüchtlingen

800.000 Flüchtlinge werden für das Jahr 2015 in Deutschland erwartet. Eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft, aber auch eine Chance. Zunächst muss die Grundversorgung und Unterbringung geregelt werden, im nächsten Schritt wird es darum gehen, die Integration der Menschen zu gestalten. Das Thema der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen steht dabei schon länger auf der politischen Agenda. Erste Schritte wurden bereits unternommen: Seit Anfang des Jahres haben Asylbewerber und Geduldete schon nach drei Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt, auch die Vorrangprüfung, die Deutsche, EU-Bürger und andere „Drittstaater" bei der Arbeitsplatzvergabe bevorzugt, wurde gelockert. Unser Fördermitglied Olaf Lies, Niedersachsens Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr, befürwortet diese Entwicklung. Er erklärt in diesem exklusiven Interview für unser Magazin "Aktiv für Chancengleichheit", welche konkrete Hilfestellung das Land Niedersachsen bei der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge leistet. Ein Gespräch über Menschenwürde, Perspektiven – und gefährliche Ideologien.

Welche Maßnahmen sind notwendig, um die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt reibungslos zu gestalten?

Die Sprache hat natürlich eine große Bedeutung. Sie muss früh und durchgängig vermittelt werden. In Niedersachsen haben wir das Projekt „Kompetenzen erkennen – Gut ankommen in Niedersachsen", bei dem in den Erstaufnahmeeinrichtungen Beratungen stattfinden, um schon früh zu erkennen, welches Potenzial, welche Neigungen, welche Kompetenzen bei den Flüchtlingen vorhanden sind. Denn Arbeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Integration. Wir dürfen die Menschen nicht sich selbst überlassen, sondern wir sollten sie von Anfang an begleiten.

Wie genau läuft die Beratung ab und worauf zielt sie?

Das Projekt führen wir in den vier landesweiten Erstaufnahmestellen seit Anfang Juli durch. Das ist bundesweit einzigartig. Niedersachsen ist das erste Bundesland, in dem flächendeckend so früh Beratungsangebote für Flüchtlinge gemacht werden. Derzeit bereiten wir die zweite Projektphase vor. Die Menschen, die aus solchen Notlagen zu uns kommen, haben nicht ihren Gesellenbrief in der Tasche. Daher organisieren wir mit den Handwerkskammern derzeit eine Kompetenzfeststellung. Eine Woche lang schauen wir, welche Neigungen und Kompetenzen bei den Menschen vorhanden sind und wo es Qualifizierungsbedarf gibt. Ziel ist es, dass sie in eine duale Ausbildung kommen.

Wo liegen die Chancen einer gestalteten Arbeitsmarktintegration – für die Flüchtlinge, aber auch für die Wirtschaft und Deutschland insgesamt?

Die Chance für die Flüchtlinge liegt darin, dass es kein langes, ungewisses Warten gibt, sondern dass sie zügig integriert werden. Wir überlassen sie nicht sich selbst, wir bieten ihnen früh eine Perspektive und ein klares Zeichen, dass sie hier willkommen sind. Die Wirtschaft kann auf diese Weise einem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken. Integration ist eine gesellschaftliche Kernaufgabe und sie funktioniert über die Sprache und über den Arbeitsmarkt. Das schafft auch Akzeptanz in der Bevölkerung.

Wo bestehen noch Probleme, Hürden und rechtliche Unsicherheiten?

Ein Ziel muss es auch sein, die Erwartungshaltung zu normalisieren. Nicht jeder kann und soll vermittelt werden. Die Menschen müssen oftmals auch zur Ruhe kommen, viele sind traumatisiert. Wichtig ist, dass sie eine ernsthafte Perspektive bekommen, um hier bleiben zu können: Wir dürfen sie nicht qualifizieren, um sie dann zurückzuschicken – das wäre ein merkwürdiges Prinzip. Darüber hinaus müssen wir strengstens darauf achten, dass, wenn sie in Arbeit sind, die Gesetze und der Mindestlohn eingehalten werden. Was wir gerade mit dem Missbrauch von Werksverträgen erleben, besonders im Niedriglohnbereich, darf auch bei Flüchtlingen nicht passieren. Es geht darum, unwürdige Arbeitsverhältnisse zu verhindern.

Wie geht man mit der „Aschenputtel"-Debatte um, deren Kritikpunkt lautet, dass über das Instrument der Arbeitsmarktintegration eine Selektion stattfindet in ökonomisch „gute" und „schlechte" Asylbewerber?

Asyl bedeutet in erster Linie Schutz und Menschenwürde. In diesem Zusammenhang sollten wir auch die Diskussion über sichere Herkunftsländer führen und uns die Frage stellen: Wer kann bleiben? Aber man sollte immer versuchen, Schutz und Würde mit einer Perspektive zu verbinden. Das heißt nicht, dass Menschen, die erstmal keine Bleibeperspektive haben, weniger wert sind. Was wir aber machen können, ist, dafür Sorge zu tragen, dass manche nicht in den Sog der Ungewissheit und der Perspektivlosigkeit geraten.

Die Problematik, die sich stellt, ist doch, dass wir einen rechtlichen „Flickenteppich" haben, was die verschiedenen Formen der Migration nach Deutschland betrifft. Könnte da ein Zuwanderungsgesetz nicht Klarheit schaffen?

Natürlich brauchen wir ein Zuwanderungsgesetz – und zwar mit klaren, nachvollziehbaren Regeln. Flüchtlinge kommen teilweise nach Deutschland, werden erst zurückgeschickt und gelangen dann wieder über die Arbeitsmarktschiene zu uns. Das halte ich nicht für sinnvoll, das muss man in Zukunft klug verzahnen.

Wir erleben in Deutschland gerade zum einen eine große Solidarität und Anteilnahme gegenüber dem Schicksal der Flüchtlinge. Andererseits steigt auch die Zahl rassistischer Übergriffe, es gibt Proteste, Flüchtlingsheime brennen. Wie geht man mit dieser Situation um?

Die Menschen, die zu uns kommen, müssen als Teil dieser Gesellschaft gesehen werden. Und ein ganz, ganz großer Teil der Gesellschaft ist demgegenüber sehr positiv eingestellt. Aber ein kleiner Teil verfolgt immer noch eine gefährliche Ideologie. Das muss die überwiegende Mehrheit klar und deutlich ablehnen: Wir stehen für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen und erteilen jeder Form von Rassismus eine Absage.