„Die soziale Frage lässt sich nicht über Ausgrenzung lösen“

Interview mit der Rechtsextremismus-Expertin Prof. Beate Küpper

Chemnitz, Köthen, Dortmund – überall an diesen Orten entflammten in den letzten Wochen rechter Hass, Hetze und Gewalt.Hitlergrüße wurden gezeigt, ausländerfeindliche Parolen skandiert, Polizisten und Journalisten angegriffen, Migrantinnen und Migranten wahllos gejagt, bedroht und verletzt. Es scheint, als gäbe es keine Hemmschwellen, keine Abgrenzung mehr.“Besorgte Bürger” marschieren Seite an Seite mit militanten Neonazis.

Frau Prof. Küpper, Sie untersuchen regelmäßig in den „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Erleben wir derzeit eine neue Dimension des Hasses?

Rechtsextreme Gewalt, Angriffe auf Migrantinnen und Migranten hat es auch schon in den 90er und 2000er Jahren gegeben – Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, aber auch Mölln und Solingen sind die Orte, die im kollektiven Gedächtnis sind. Auch damals haben schon erkennbare, organisierte Rechtsextreme und „besorgte“Bürgerinnen und Bürger neben- und miteinander agiert. Auch der NSU hat in dieser Zeit gemordet. Neu an der Dimension des Hasses jetzt sind die Rasanz, das provokative Selbstbewusstsein und die schnelle und gute Organisation, mit der er mancherorts wieder den öffentlichen Raum erobert hat. Die Bilder aus Chemnitz waren schon gruselig, vor allem, weil dort eben auch die „besorgten“ Durchschnittsbürgerinnen und -bürger mitgelaufen sind, die das offenbar nicht gestört hat, neben gewaltbereiten und gewalterfahrenen Rechtsextremen mit Hitlergruß zu demonstrieren. Was wir immer bedenken müssen: Der Rechtsextremismus hat in Deutschland nach 1945 ja nicht plötzlich aufgehört zu existieren. Vielmehr haben sich die Deutschen erst ganz langsam, oft unfreiwillig und gegen viele Widerstände überhaupt den Verbrechen des Holocaust gestellt, ein Bewusstsein für Demokratie erlangt und sich eine menschliche Zivilisiertheit zurück erarbeitet. Derzeit müssen wir erleben, wie dünn und brüchig diese Schicht ist. Viele Menschen stellen das gerade mit großem Erschrecken fest und machen sich Sorgen vor einem weiteren Rechtsruck. Bereits in der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung 2016 äußerten zwei Drittel der repräsentativ Befragten diese Sorge. Die großen Demonstrationen für Demokratie und gegen Rassismus wie beispielsweise kürzlich in München machen Hoffnung, dass jetzt doch viele aufwachen.

Wie konnte es soweit kommen? Wo sehen sie die Ursachen des Rechtsrucks – politisch und gesellschaftlich?

Auf der einen Seite geht es Deutschland insgesamt und der überwiegenden Zahl von Menschen ökonomisch so gut wie noch nie, auch wenn es gleichzeitig eine tiefe soziale Spaltung gibt. Doch diejenigen, die wirklich arm und abgehängt sind, sind gar nicht jene, die da in großer Anzahl rechten Hass versprühen oder rechte Parteien wählen. Der Großteil beispielsweise derjenigen, die mit der AfD sympathisieren, gehört zur Mittelschicht. Gleichzeitig haben aber viele Leute Sorge vor einem Abstieg, also etwas zu verlieren. Dazu gehört auch, etwas abgeben und teilen zu müssen. Sie fühlen ihre eigene Gruppe, mit der sie sich identifizieren, im Vergleich zu anderen, beispielsweise Migrantinnen und Migranten, benachteiligt, auch wenn das faktisch nicht so ist. Es sind also weniger echte ökonomische Ursachen, sondern vielmehr gefühlte Benachteiligungen und Bedrohungen,die für den Rechtsruck mit verantwortlich sind. Und genau hier haken strategische Akteure der Rechten ein. Sie holen die Menschen bei diesem Gefühl ab, heizen es an und weisen dann auf „Ausländer“ und „Flüchtlinge“ als vermeintliche Sündenböcke. Aber auch die „Muslime“,„EU“, „linke Gutmenschen“, „die Homo-Lobby“ und „Feministinnen“ werden als Feinde ausgemacht, oftmals mal offen, mal subtil unterfüttert durch antisemitische Verschwörungsmythen, verbreitet beispielsweise unter Chiffren wie „George Soros“, der zusammen mit Angela Merkel eine „Umvolkung“ plant oder so ein ähnlicher Blödsinn.

Sie sagen, es ist bei vielen mehr die subjektive Wahrnehmung der Situation als die objektive ökonomische Lage. Wieso scheint das Gefühl der Bedrohung und Konkurrenz so zu verfangen?

Hier kommt die These von den kulturellen Modernisierungsverlierern ins Spiel. In den letzten Jahrzehnten ist die Gesellschaft insgesamt offener geworden, der Blick für Diskriminierung von diversen sozialen Gruppen, die Anspruch auf gleichwertige Teilhabe erhoben haben,wurde geschärft. Rechtspopulismus und auch Rechtsextremismus binden beides zusammen: Den Hass auf „die da oben“ und auf „die Anderen“, die die Selbstverständlichkeit des Status und den damit verbundenen eigenen Privilegien infrage stellen. Auch der Neoliberalismus hat daran seinen Anteil, aber meines Erachtens anders, als von einigen gedacht. Befragte, die in der FES-Mitte-Studie 2016 besonders zu rechtspopulistischen Einstellungen tendieren und jene, die mit der AfD sympathisieren, teilen mehr als andere neoliberale Wertvorstellungen: Etwa derart, dass nur der, der etwas leistet auch etwas wert ist. Die Abwertung und Ausgrenzung der jeweils „Anderen“ ist also auch ein Versuch, sich die Konkurrenz vom Leib zuhalten.

Welche Rolle spielen dabei Politik und Medien?

Eine nicht zu unterschätzende. Nicht zuletzt ist der Rechtsruck auch ein gewisser Selbstläufer– wenn einmal das dünne Eis der Zivilisiertheit angeknackst ist, bricht es leicht weiter, umso leichter, wenn einige Politikerinnen und Politiker sowie einige Medienformate kräftig drauf herumstampfen. So belegen Medienanalysen der großen Talkshows, dass rechtspopulistischen Stimmen und Themen in den vergangenen Jahren überproportional ein Forum geboten wurde, während umgekehrt die vielen anderen, die sich für Demokratie stark machen– wozu mancherorts viel persönlicher Mut gehört– und sich mit viel Zeit, Energie und Herzblut für Geflüchtete engagiert haben, wenig Aufmerksamkeit bekommen haben.

Unter den offenen Rassismus mischt sich auch eine starke Systemverachtung –gegen Politiker, Parteien, Presse. Gibt es da Wechselwirkungen? Und wie sehr sehen Sieunsere Demokratie bedroht?

Aus wissenschaftlicher Sicht gehört beides zusammen zur rechtspopulistischen Logik und Rhetorik – auf der vertikalen Dimension wird gegen „die da oben“, auf der horizontalen Dimension gegen „die Anderen“ gehetzt. Dagegen wird das vermeintlich homogene „Volk“ in Stellung gebracht, das – wie dann behauptet wird – einen einzigen Willen hat, der durch eine einzige Führung ohne Vermittlung durch störende Zwischeninstanzen von Parteien wie sie die parlamentarische Demokratie – auch die öffentlich- rechtlichen Medien sind solche Vermittler– eingebaut hat, umgesetzt wird. Das macht den Rechtspopulismus im Kern so undemokratisch. Die Demokratie ist da bedroht, wo ihre Grundfesten infrage gestellt werden: Würde, Gleichheit, Pluralität – und zwar für alle Menschen.

Gewerkschaften stehen für eine offene und solidarische Gesellschaft. Wie kann man der Verrohung und Polarisierung entgegenwirken, Zusammenhalt stärken – auch aus Sicht der Gewerkschaften?

Gewerkschaften sind für die demokratische Gesellschaft ganz wichtige Akteure. Dass es sie überhaupt gibt, wie sie erkämpft worden sind, ist Beleg dafür. Ihr Anspruch sind bessere und gleichere Lebensbedingungen und Solidarität, übrigens auch internationale. Sie können und müssen diese Werte in die Betriebe hinein vermitteln. Dazu gehört auch, sie immer wieder neu zu erklären. Gewerkschaften können dabei Personen erreichen, die von anderen Akteuren beispielsweise der Parteien, Kirchen, der klassischenpolitischen Bildung nur schwer erreicht werden. In den letzten Jahren wachsen aber auch unter Gewerkschaftsmitgliedern rechtspopulistische und zum Teil sogar rechtsextreme Einstellungen und strategisch agierende Akteure rechter Parteien wie die AfD versuchen, Funktionen zu erlangen, sich etwa in die Betriebsräte wählen zu lassen. Sie gewinnen durch einfache Parolen jene, die sich gern überzeugen lassen, dass es einfache Lösungen gibt. Dabei machen sie ein vergiftetes Angebot, denn Solidarität, Unterstützung für jene, die es nicht so einfach haben, ist ja gerade nicht ihr Ding. Gewerkschaften sind aufgefordert, ihre Werte mit Inhalt zu füllen, das heißt Solidarität mit allen, die der Solidarität bedürfen, hier ganz klar Position zu beziehen und dafür in den Betrieben zu werben. Und vor allem zu erklären, dass sich die soziale Frage nicht über Ausgrenzung lösen lässt, denn der nächste, der dran glaube muss, ist man vielleicht auch selbst, und in so einer Gesellschaft wollen die wenigsten leben.

Prof. Beate Küpper (Hochschule Niederrhein)